Mein Großvater log nie.
»Schau mich an«, sagte er, »habe ich es nötig zu lügen?«
Ich schaute ihn an. Großvater war ein Berg, groß, mächtig und oben weiß. Seine Brust war voller Haare, Tattoos und Narben. »Hinter jedem Tattoo verbirgt sich ein Abenteuer, und in jeder Narbe steckt eine ganze Geschichte«, sagte er und lachte so laut, dass die Gläser im Küchenregal vibrierten und so einen Klang von sich gaben, als lachten sie mit ihm.
Großvater war Kapitän zur See und erlebte viel. Er steuerte ein seltsames großes Schiff namens Sphinx.
Das Schiff sah von außen ganz normal aus, wie jedes andere Handelsschiff auch. Es war etwas alt, aber sehr schnell. Doch merkwürdig war der Schiffsbauch. Neben der Kapitänskajüte, dem bescheidenen Schlafraum für die zehn Seeleute, der kleinen Kombüse und den Vorratskammern befand sich dort nur noch ein einziger großer Raum mit doppelter Wand. In diesem Raum wurden weder Gold noch Gewürze transportiert. Großvater transportierte Eis, und dies dreißig, vierzig Jahre lang.
Nun werden viele sagen: »Eis? Warum ausgerechnet Eis? Haben die Leute keine Kühlschränke? Oder ist das wieder Seemannsgarn?«
Nein, nein. Damals hatten die Leute weder Strom noch Kühlschränke.
Im Orient ist es bekanntlich sehr heiß. Und Eis war sehr begehrt, vor allem dort, wo es nie schneite, und das war in Ägypten der Fall. Deshalb haben die Leute in den hohen Bergen des Libanon, wo es mindestens drei Monate lang Schnee gab, schlau wie sie sind, den Schnee zu Eisblöcken gepresst und das Eis zum Hafen gebracht, wo mein Großvater es mit seinem Schiff über das Meer nach Ägypten brachte. Das Eis lag gut isoliert im Schiffsbauch, aber trotzdem schmolz ein wenig davon weg. Immerhin konnte Großvater pro Schiffsfahrt drei Viertel seiner Ladung, und das waren 150 Tonnen Eis, heil im ägyptischen Alexandria löschen.
Die Leute zahlten viel Geld für jedes Stückchen Eis. Es war für sie wie ein Wunder, gefrorenes Wasser zu sehen. Auch war es für die Ägypter sehr genussvoll, in der Hitze ein kühles Getränk zu sich zu nehmen. Und auch Fleisch und vor allem Fisch blieben nun länger kühl und frisch.
Großvater konnte gar nicht schnell genug mit dem Schiff sein, denn innerhalb weniger Tage war die ganze Ladung ausverkauft. Die Ägypter liebten ihn und nannten ihn: die Eissphinx.
Eines Tages fuhr Großvater wieder seine Route, als plötzlich ein Piratenschiff aufkreuzte. Damals waren die Seeräuber im Mittelmeer sehr gefürchtet. Sie kannten bei Widerstand keine Gnade.
Die Matrosen liefen zu Großvater und stotterten blass: »Piraten! Piraten !«
Sie hatten Angst, weil sie unbewaffnet waren.
Florian Felix Weyh, Jahrgang 1963, lebt als Publizist und Journalist mit seiner Familie in Berlin. Seit 1988 ist er ständiger Mitarbeiter des Deutschlandfunks. Features, Moderationen und Sendungen für den NDR, SWR und WDR zählen ebenfalls zu seinem Portfolio. Im Tagesspiegel, Berlin, und in der Sächsischen Zeitung, Dresden, unterhielt er jeweils eine mehrjährige Kolumne. Beiträge und Essays erschienen in Zeitungen und Zeitschriften wie Cicero, Kursbuch, Du, StadtAnsichten, Financial Times Deutschland, Berliner Zeitung, Lettre International, Leviathan, Universitas. Einen besonderen Schwerpunkt legt er auf die gedankliche und publizistische Verbindung von Wirtschaft und Kultur; bisweilen leiht er Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft als Ghostwriter seine Feder. Er wurde mit Preisen und Stipendien in diversen literarischen Gattungen ausgezeichnet (Kurzgeschichte, Essay, Drama, Feature, Hörspiel).
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